Grenzenlos #6: „Dafür meinen ewigen Respekt“

Es braucht schon Mumm und die richtige Motivation, jeden Tag über 20 km zu marschieren. Was man dabei erleben kann, zeigt euch die Manchingerin Chantal Hibler auf dem Jakobsweg.

Foto-Reportage von Michael Urban, Oktober 13, 2018

Chantal Hibler musste ihre Akkus mit 29 Jahren wieder aufladen. Sich selbst neu finden. Und sich sportlich mal wieder richtig herausfordern. Dabei möchte man meinen, als studierte Sportwissenschaftlerin spielte die körperliche Ertüchtigung für die Manchingerin sowieso, grundsätzlich und immer eine große Rolle in ihrem Leben. Aber an seine Grenzen zu gehen – und das im wahrsten Sinne des Wortes – ist dann doch etwas anderes. So nahm Chantal ihren ganzen Mut zusammen und machte sich auf zum Jakobsweg nach Spanien. 500km in 24 Tagen, von Burgos nach Santiago de Compostela, das war das Ziel. Hier erzählt sie uns von ihrer Reise, die am 7. Juni 2018 begann.

„‚Jetzt denk nicht an morgen, sondern wag den Schritt!‘ und ‚Dafür meinen ewigen Respekt!‘ waren die Sprüche – und Tritte in den Hintern – zweier besonderer Herzensmenschen, die mir den Mut für den Jakobsweg gegeben haben.“

Chantal Hibler

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Burgos

Nach allem Abwägen, Für und Wider, nach allen Planungen und all der Vorfreude ist es auf einmal Realität: Mein Rucksack und ich sind plötzlich allein in Spanien. Die Reise auf dem Camino Francés, der klassischen Route des Jakobsweges durch Spanien, beginnt. Ich steige bei der Station Burgos ein, bis zur Endstation Santiago de Compostela sind es rund 500 km Fußmarsch. Puh. Ich verbringe den Tag damit, die Stadt anzusehen, mir meinen Startstempel geben zu lassen und das wichtigste Pilgererkennungszeichen zu kaufen: die Jakobsmuschel.

Mein erster Lauftag führt direkt in und durch die Meseta, das kastilische Hochland. Ich habe Glück: Normalerweise sind die Felder und Wiesen dieses Flachlands zu dieser Zeit von der Junisonne braungebrannt. Allerdings hat es in diesem Jahr viel geregnet, sodass sich mir satte, grüne Farben in endlosen Weiten darbieten. Hier finde ich auch meinen ersten Wegweiser mit der weltbekannten Jakobsmuschel … es geht einfach weiter geradeaus.

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Casterojeriz

Ein Blumenmeer zieht sich durch die Meseta, weiter durch das malerische Dörfchen Hontanas und darüberhinaus. Derart inspiriert bemerkt man die 12 Prozent Anstieg bei Casterojeriz fast gar nicht.

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León

Nachdem ich drei Tage lang meine schmerzende Füße und die sich bildenden Blasen nicht nur erfolgreich ignoriert habe, sondern damit weitere 25 km gelaufen bin, erteilt mir mein Körper eine wichtige Lektion: Achte mehr auf dich und gib jedem gelaufenen Meter seine Berechtigung! Nachdem sich Blasen über den Blasen gebildet haben, muss ich nach 178 km Wegstrecke eine Zwangspause in León einlegen, weil ich nicht mehr imstande bin weiterzugehen.

León strahlt einen gewissen Stolz aus, den ich in keiner anderen Stadt auf meinem Weg bisher so deutlich empfunden habe. Mittelpunkt ist natürlich die Kathedrale. Mit ihren einzigartigen bunten Glasfenstern, welche zum Teil noch aus dem Mittelalter stammen, ist sie ein richtiges Schmuckstück.

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Rabanal

Während meiner nächsten Tage verändert sich die Landschaft entlang des Camino immer mehr. Das liegt daran, dass ich mich langsam, aber sicher den Bergen Leóns nähere. Nach den ersten überwundenen Höhenmetern (León lag auf 837 m) beschließe ich, eine Nacht in Rabanal zu bleiben. Diese Entscheidung ist schicksalhaft, da ich hier den deutschen Hospitalero Wolf kennenlerne, der mich mittels Handauflegen von anhaltenden Muskelkrämpfen befreit. Siehe da – ein kleines „Wunder“ auf meiner Pilgerreise.

Ich fühle mich am nächsten Tag wie ein neuer Mensch und bin bereit, den höchsten Punkt des gesamten Caminos zu erklimmen: den Gipfel des Monte Irago mit dem „Cruz de Ferro“ auf 1504 m. An diesem Kreuz legt jeder Pilger seine inneren Lasten ab, zumeist symbolisiert durch einen Stein. Nach einem gelungenen Aufstieg belohne ich mich mit einem Estrella Galicia, einem hellen Lagerbier. Es schmeckt gut, aber als waschechte Bayerin vermisse ich mein Weizen schon sehr.

Villafranca de Bierzo

In Villafranca de Bierzo ändert sich für mich vieles. Hier treffe ich den einzigen Menschen, den ich auf meiner Reise als Weggefährtin akzeptieren konnte. Beim Abendessen mit Fisch und spanischem Rotwein lerne ich Agnes kennen – wobei, eigentlich kennen wir uns schon eine ganze Weile. Von Beginn an sind wir immer wieder in der gleichen Herberge gelandet, fast könnte man meinen, jemand oder etwas wollte, dass sich unsere Wege kreuzen.

Die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns zu Hause „im realen Leben“ so nahe kommen, ist womöglich sehr gering. Und hier: Weltanschauungen, Laufgeschwindigkeiten, Humor – all das passt zusammen wie Puzzlestücke. Wir können stundenlang miteinander reden, kilometerlang miteinander schweigen. Eigentlich wollte ich den Camino unbedingt alleine laufen, jetzt bin ich froh, dass Agnes an meiner Seite ist.

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O Cebreiro

Der Camino führt mich weiter bis zur Grenze Kastilliens. Hier beginnt mit der Stadt O Cebreiro Galicien und somit das Vermächtnis sowie die Mentalität der Kelten. Kaum setze ich einen Fuß in die Stadt, fühlte ich mich sofort in die Asterix-und-Obelix-Comics versetzt. Ich mache es mir auch gleich zur Aufgabe, den legendären Zaubertrank der Gallier ausfindig zu machen und werde fündig: Der Trank heißt „Queimada“ und soll vor Dämonen und bösen Geistern schützen.

Ich darf dabei sein, als eine einheimische Familie gemeinsam mit uns Pilgern einen kleinen Ritus rund um diesen Trank abhält. Während das Oberhaupt den Trank anzündet, verrührt und verschiedene Früchte hinzugibt, wird ein galicischer Zauber gesprochen. Anschließend bekommt jeder ein Gläschen des noch warmen Gebräus.

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Sarria

Gestärkt durch den gallischen Zaubertrank mache ich mich bereit, meine nächsten Etappen zu meistern. Ich gehe zeitig los, um einmal den Sonnenaufgang auf dem Camino zu sehen. Schließlich gelange ich nach Sarria und somit an den am meisten fotografierten Wegstein: die letzten 100 km sind angebrochen. Nie wieder dreistellig!

Möchte man am Ende seiner Reise die Compostela (Pilgerurkunde) in Santiago erhalten, muss man ab hier ausschließlich zu Fuß laufen und mindestens zwei Stempel pro Tag in den Pilgerausweis gedrückt bekommen. Es ist viel los im Vergleich zum Rest meines Weges. Das liegt vor allem daran, dass viele Spanier immer wieder die letzten 100 km wandern. Wir treffen auf Schulklassen, die ihre letzte Schulwoche nutzen, um eine Compostela zu bekommen. Das macht sich später gut in ihrem Lebenslauf, wenn es um die Jobsuche geht, erzählen sie uns.

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Pedrouzo

In Pedrouzo zelebriere ich gemeinsam mit meiner Weggefährtin Agnes und unseren neu gewonnenen Wandergefährten, Melany und Wayne aus Kanada, unser letztes gemeinsames Frühstück. Ab hier trennen sich leider unsere Wege.

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Santiago de Compostela

„Thank you frailty, thank you consequence. And thank you, thank you, silence!“, dröhnt es auf den letzten Metern in meinen Ohren. Alanis Morissette bereitet mir den Soundtrack für meinen Einmarsch in Santiago de Compostela. Das empfängt mich am 1. Juli genau so, wie mich mein Startpunkt Burgos am 7. Juni verabschiedet hat: mit strömendem Regen. So schließt sich wohl der Kreis. Überglücklich, mit der Compostela in der Hand und im Regen tanzend, beende ich meine wundervolle Reise durch Spanien und zu mir selbst.