Weihnachtskrimi: Stille Nacht, eisige Nacht – Teil #24

Lesen und Spenden - mit dem Hallertauer Adventskrimi von Christiane Fux! Begleitet Kommissar Reineder durch seinen mysteriösen Fall, die Hallertau und unsere 24 Türchen. Und wenn es euch gefallen hat, schließt euch unserer Autorin an, die ihr Honorar ganz im Geiste der Weihnacht für ein Kinderhospiz spendet.

Allgemein von hallertau.de, Dezember 24, 2019

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Teil 24

Das Tor zu dem Anwesen schwang lautlos auf. Sie saßen zu dritt im Wagen: vorne wie üblich Bibi am Steuer, Reineder auf dem Beifahrersitz und der Metzger auf der Rückbank. Er trug einen OP-Kittel, der ihm etwas zu eng war – aber sie hatten schließlich improvisieren müssen. Die Handschellen an seinen Handgelenken klirrten leise, wenn er sich bewegte. Diese Aktion entsprach ganz und gar nicht dem üblichen Verfahren, aber der Metzger hatte auf stur geschaltet und sich auf nichts anderes einlassen wollen. Entweder sie nahmen ihn mit und er zeigte ihnen den Weg, oder er würde sich nicht aus seinem Krankenhausbett rühren. Basta. Und nun waren sie offenbar am Ziel. Die moderne Villa bestand aus weißen Kuben, die dank ihrer riesigen Fenster tagsüber sicher lichtdurchflutet waren. Jetzt strömte goldenes Licht aus ihnen in den weitläufigen Garten, dessen Pflege monatlich vermutlich mehr als ein Kommissarsgehalt verschlang. Eines stand fest: Hier gab es für kriminelle Geister sicher einiges zu holen – beispielsweise, wenn es im Fall der toten Hand tatsächlich um Erpressung gegangen war. Denn noch hatte der Metzger kein Wort darüber verlauten lassen, was überhaupt geschehen war.
„Warte du hier, ich checke mal die Lage“, sagte Reineder zur Bibi, der die Ansage zwar nicht gefiel, aber irgendjemand musste den Verdächtigen schließlich im Auge behalten.
Die Tür öffnete sich, bevor Reineder die Klingel betätigen konnte. Der Mann, der im Türrahmen stand, mochte Anfang fünfzig sein. Gut erhaltene Anfang fünfzig: schlank, mit vollem, distinguiert graumeliertem Haar. Er trug Jeans und einen schwarzen Rollkragenpullover, denen man ansah, dass sie teuer gewesen waren.
„Ich nehme an, Sie sind von der Polizei“, sagte der Mann gelassen. „Ich habe gerade erst online von Ihrer Suche erfahren.“
Reineder brauchte eine Sekunde, um sich zu fassen. Der linke Ärmel des teuren Pullovers war hochgerollt und auf halber Höhe mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Er war leer.

„Freiwillig?!“ Kimmi zog ihre perfekt geschwungenen schwarzen Augenbrauen hoch. „Er hat sich seine Hand freiwillig abnehmen lassen?“ Es war  Heiligabend, und Reineder und seine Frau waren vom Esstisch auf die Couch umgezogen. Kimmi hatte die schlanken Beine unter sich geschlagen und hielt ein Glas Rotwein in der Hand.
„Das kling völlig verrückt, oder?“ Reineder stellte sein Glas auf den Tisch. „Tatsächlich ist der Mann kein Einzelfall.“
Es war eine der kuriosesten Situationen gewesen, die Reineder während seiner an merkwürdigen Begebenheiten reichen Dienstzeit erlebt hatte.
Der einarmige Michael Thalheimer hatte erst ihn und, nachdem er deren Anwesenheit bemerkt hatte, auch Bibi und den Metzger hereingebeten. Letzteren hatte er übrigens sehr herzlich mit den Worten „Mein lieber Dr. Brunner begrüßt“ und gefordert, man möge dem sogleich die Handschellen abnehmen. Anfangs hatte Reineder noch eine Art Stockholm-Syndrom vermutet, ein psychisches Phänomen, bei dem Entführungsopfer sich mit ihren Entführern solidarisierten. Doch nach und nach kam die ganze Geschichte heraus.

Thalheimer litt schon seit seiner Kindheit extrem unter der Vorstellung, dass sein linker Arm nicht zu ihm gehöre. Er hatte einen regelrechten Widerwillen gegen diesen entwickelt. „Stellen Sie sich vor, man hätte ein Leichenteil angenäht, irgendeinen fremden Arm. So fühlt sich das an.“ Body Integrity Identity Disorder hieße diese seltene psychische Störung, hatte er erklärt. Er habe viel Geld für psychotherapeutische Behandlungen ausgegeben, aber das Gefühl, ein widerwärtiges Anhängsel mit sich herumzuschleppen, war geblieben. „Manche Betroffene, die unter Body Integrity Identity Disorder leiden, sind so verzweifelt, dass sie sich ihre Gliedmaßen eigenhändig amputieren“, hatte Thalheimer berichtet. Aber das habe er dann doch nicht gewagt. „Dann habe ich mitbekommen, dass Herr Dr. Brunner seine Praxis aufgeben musste. Das habe ich sehr bedauert. Er hatte sich immer hervorragend um mein Pferd gekümmert.“
Bibi lachte in sich hinein. Hatte Dr. Lutz aus der Rechtsmedizin also richtig gelegen mit seiner Behauptung, der Besitzer des Arms würde regelmäßig reiten.
„Jedenfalls hat er hervorragende Arbeit geleistet – auch in meinem sehr speziellen Fall“, war Thalheimer fortgefahren.
„Wenn Sie so ein guter Tierarzt sind, warum nennt man Sie dann den Metzger?“, platzte Bibi, an den Veterinär gewandt, heraus.
„Ganz einfach: mein Vater ist Metzger gewesen. Metzgerei Brunner, nie gehört?“
„Dann sind sie gewissermaßen das schwarze Schaf in der Familie.“
„So ist es, und zwar schon immer“, hatte der Metzger bestätigt und zum ersten Mal gegrinst.
„Warum sind Sie dann überhaupt geflohen?“, hatte Bibi noch vom Metzger wissen wollen.
„Das war eine Kurzschlussreaktion. Ich hatte gerade den Artikel im Internet gefunden, als Sie aufgekreuzt sind. Und ich war mir nicht sicher, ob die Sache strafbar ist.“
Da war auch Reineder für den Moment überfragt. Amputation auf Verlangen? Also eine Art Körperverletzung auf eigenen Wunsch? Er hatte keine Ahnung, wie da die Rechtslage war. Und irgendwie gehörten Schönheitsoperationen, bei dem sich jemand melonengroße Brüste oder ein enormes Arschimplantat machen ließ, aus seiner Sicht in dieselbe Kategorie und waren erlaubt. Und überdies musste Reineder zugeben, dass ihr Gastgeber ungemein glücklich mit seiner einarmigen Situation wirkte. „Zum ersten Mal im Leben fühle ich mich richtig“, hatte er gesagt.
„Und wie ist der Arm aufs Feld gekommen?“, fragte die Bibi.
Thalheimer blickte zum Metzger. „Ich habe Dr. Brunner gebeten, sich darum zu kümmern.“
Der Metzger zuckte die mächtigen Achseln. „Ich habe ihn beerdigt. Es schien mir einfach nicht richtig, ihn irgendwo in den Müll zuwerfen.“

Kimmi schüttelte den Kopf. „Was für eine verrückte Geschichte.“
Da schellte es an der Tür. Reineder warf einen Blick auf seine Armbanduhr, 21:42 Uhr. Wer klingelte zu der Zeit am Heiligen Abend?
Kimmi sprang auf. „Das wird Benni sein“, rief sie und eilte zur Tür.
Reineder wurde ganz kalt. Benni? Was wollte der Kerl?
Schon kamen die zwei wieder ins Wohnzimmer marschiert. Der Kommissar blickte irritiert von einem zum anderen. Der Kerl grinste, Kimmi strahlte. „Ich weiß, ich war immer dagegen“, begann sie. „Und es macht unser Leben natürlich komplizierter. Aber dann habe ich mich ganz einfach in das Kerlchen verliebt. Ich habe ihn die letzten Wochen öfters besucht und wir sind dicke Freunde geworden.“
Erst jetzt nahm Reineder so richtig wahr, dass Benni eine große Schachtel in der Hand trug. Behutsam stellte er sie auf dem Boden ab und öffnete den Deckel. Heraus schaute ein wunderhübscher Golden-Retriever-Welpe. Reineder ging das Herz auf. Er hatte sich schon immer einen Hund gewünscht. Und auch für ihn war es – das zweite Mal in seinem Leben – Liebe auf den ersten Blick.

15 Kilometer entfernt von ihnen saß der Metzger in seiner Forsthütte und schaute hochzufrieden auf sein Werk. „Body Integrity Identity Disorder?“, stand auf der Website, die er in den Stunden zuvor zusammengebastelt hatte. „Wir helfen Ihnen weiter. Diskretion garantiert.“ Er drückte auf „veröffentlichen“ und schickte sie ins Netz.

The End.

Wir wünschen frohe Weihnachten und bedanken uns von Herzen für eure Spenden!

Zu den anderen Türchen


Die Autorin

Christine Fux (zur Website), aufgewachsen in Hamburg, lebt und schreibt seit mehr als 20 Jahren in München. Dank ortskundiger Freunde ist ihr inzwischen auch der besondere Charme der Hallertau vertraut. Die Medizinjournalistin hat bislang vier Kriminalromane rund um den ermittelnden Bestatter Theo Matthies im Piper-Verlag veröffentlicht. Nebenbei strickt sie raffinierte Dinnerkrimispiele für zuhause unter der Marke „Mörderische Dinnerparty“.

Das gesamte Honorar für diesen Adventskalender geht als Spende an die Stiftung „Ambulantes Kinderhospiz München“. Die in ganz Bayern tätigen Helfer unterstützen Familien mit schwerst- und todkranken Kindern, damit die kleinen Patienten statt im Krankenhaus im Kreise ihrer Familien versorgt werden können.

Wenn auch du dieses wichtige Projekt unterstützen möchtest, kannst du dich hier informieren: www.kinderhospiz-muenchen.de. Oder spende direkt und unkompliziert unter unserer personalisierten Spendenaktion „Lesen und Spenden – mit dem Hallertauer Adventskrimi!“.

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