Mein Lieblingsort in der Hallertau #4: Starzhauser Brückerl

Der Ort von dem ich hier erzähle, ist nicht unschön aber auch nicht auffallend hübsch, er lässt nicht einmal besondere Erinnerungen hochleben. Nüchtern gesagt liegt er unweit von einer Kläranlage. Aber beginnen wir von vorne.

Feature von hallertau.de, Juli 18, 2019

Ein Beitrag von Tobias Rossmann

Es beginnt mit einer Wanderung, die von meiner Haustür aus startet. Denn auch dieser 15-minütige Fußmarsch ist dafür verantwortlich, warum ich jene Stelle so gerne aufsuche. Es geht vorbei an urigen Landhäusern, hinaus aus meinem Heimatdorf und hinein in die Feldflur. Wenn man es versucht, wenn man es wirklich möchte, kann man auch in dem wenigen, was von der Natur geblieben ist, das Besondere sehen. Der Weg führt mich über einen Bach, der im Frühling von duftenden Schlehen gesäumt ist. Von hier aus hat man einen traumhaften Ausblick auf Fluss, Dorfkirche und einen prächtigen Buchenwald. An der Kläranlage entlang führt mich ein Schleichweg zu einem Rinnsal, kaum einen Meter breit. Dieser Weg verband einst das Nachbardorf mit meiner Heimatkirche und wurde erst wieder etwas belebt, als dort ein kleines Brückal errichtet wurde. Hier stehe ich, eingeschlossen im dichten Schilf, das mir im Frühling Jahr für Jahr sein zwitscherndes Potpourri zu präsentieren scheint. Eine Dorngrasmücke vollführt ihren herzzerreißenden Singflug und ein Teichrohrsänger bringt zugleich seinem ungeduldigen Nachwuchs Futter. Meine Fantasie macht Freudensprünge, denn sie gaukelt mir vor, in einem wilden Sumpfgebiet zu sein.

MEIN LIEBLINGSORT IN DER HALLERTAU

Klar, Vielfalt ist etwas Schönes. Und doch gibt es manche magische Plätze, die uns immer wieder in ihren Bann schlagen und zu denen wir gerne zurückkehren. Wo man immer wieder gerne auf einen Drink hingeht und alte Bekannte trifft. Ein Weiher, an dem die Uhren einfach ein bißchen anders ticken. Oder ein Winkel, an den wir nur unsere besten Freunde mitnehmen. Dies ist nicht nur ein Lieblingsplatz auf unserer Seite, sondern auch ein Ort, um unseren ganz eigenen Favoriten in der Hallertau ein Zuhause zu geben.

Der Teichrohrsänger lockt meinen Blick zum Ufer des kleinen Bächleins, wo er seinen schwätzenden, knarrenden Gesang fortsetzt. Unter ihm fliegt eine Libelle, sitzt ein Schmetterling auf einem Halm und schwimmt eine Familie Bisamratten mit Nistmaterial umher. Sie alle machen das Bild einer Reise durch das Flussdelta eines fernen Landes perfekt. Unter der Wasseroberfläche sehe ich Rückenschwimmer, Köcherfliegenlarven und verschiedenste Unterwasserwanzen. Jedes dieser Geschöpfe sieht so bizarr aus, dass man sich selbst in einer Tiefsee-Expedition sieht. Hier bleibe ich meist bis  zur Abenddämmerung. Oft auch länger.

So wie heute. Die Sonne geht langsam unter und dank meines Fernglases kann ich schon bald Planet Jupiter und seine vier Monde entdecken. Mit bloßem Auge erkenne ich das Meer der Ruhe, ein erstarrtes Lavafeld auf dem Mond, wo auch die Apollo-11-Mission landete. Inzwischen ist es tiefe Nacht geworden. Kugelsternhaufen, Doppelstern-Systeme und Galaxien zeigen sich dann im Feldstecher mit einer Zeitverzögerung von abertausenden von Jahren.

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Auch die Küken des Teichrohrsängers schauen sich gerade den Sternenhimmel an. Ob sie auch staunen oder Sternbilder identifizieren? Was wie verträumter Kitsch klingt, ist pure Realität! Alltag! Denn wer die Eigenart der uns umgebenden Pflanzen und Tiere kennt, der weiß beispielsweise auch sowas: Neben einem angeborenen Magnetkompass hilft diesem Vogel nämlich auch ein Sternenkompass um das Winterquartier zu erreichen. Das erlernen sie nur während der Nestlingszeit.

Dieser 10 Gramm leichte Winzling reist also abertausende von Kilometern, umfliegt die Alpen, flattert über das Mittelmeer, durchquert die Sahara und auch die angrenzende Sahelzone bis er irgendwann in der afrikanischen Savanne angekommen ist. Wer weiß, vielleicht saßen die Eltern der Jungen schon in einer Akazie, in dessen Schatten ein Rudel Löwe schlief. Und jetzt sind sie hier in der Hallertau. Angeglotzt von einem Kerl, der gerade sein kindliches Staunen zurückgewonnen hat. Mein Lieblingsort ist also ein Spielplatz. Eine Oase des Austobens, wo sich meine Fantasie allen erdenklichen Farben bedienen kann. Bis ich irgendwann müde werde: Schließlich war ich ja unterwegs bis zu einem tropischen Sumpf, tausende Meter hinab in der Tiefsee und bin dann eben noch schnell in den Weltraum geflogen.

Reisen ist schick, aber manchmal vergessen wir das Paradies vor der Haustür. So wie dieses kleine, manchmal stinkende, „dumme“ Bächlein über das ein kleines Brückal führt.

„Wir haben auch Arbeit, und gar zu zweit, und haben die Sonne und Regen und Wind. Und uns fehlt nur eine Kleinigkeit, um so frei zu sein, wie die Vögel sind: Nur Zeit.“

Richard Dehmel, deutscher Dichter und Schriftsteller